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Wer die Wirtschaftsnachrichten liest, der könnte meinen, die deutsche Wirtschaft kenne keine Pandemie. Der deutsche Leitindex DAX klettert von Rekordhoch zu Rekordhoch – Mitte Juni setzte er mit 15.802 Punkten die 23. Bestmarke dieses Jahres.
Zudem vermeldete der Automobilhersteller Volkswagen für die erste Jahreshälfte so hohe Gewinne wie nie zuvor: Bei knapp 11,4 Milliarden Euro lag das Betriebsergebnis des Wolfsburger Konzerns nach dem ersten Halbjahr 2021. Auch der Umsatz wuchs um mehr als ein Drittel auf rund 130 Milliarden Euro.
VW ist keine Ausnahme: Der Konkurrent Daimler legt auf dem Börsenmarkt seit Jahresbeginn ordentlich zu, auch bei Siemens, Adidas, EON und SAP klettert der Aktienkurs immer weiter in die Höhe.
Wie passen diese Wirtschaftsmeldungen mit Corona-Verkaufseinbrüchen, Firmenschließungen und ständigen Klagen aus der Wirtschaft über Umweltauflagen, CO2-Steuer etc. zusammen?
„Der DAX hat eine ganze Reihe von Einflüssen zu berücksichtigen, davon sind insbesondere die Zukunftsaussichten für die Märkte relevant“, erklärt Wirtschaftswissenschaftler Bernd Hayo von der Universität Marburg. „Auch wenn wir noch in der Pandemie stecken: Wir sind jetzt in einer Phase, in der sie langsam abklingt.“
Das führe zu zunehmendem Konjunkturoptimismus, weil die Märkte erwarteten, dass sich das wirtschaftliche Aktivitätsniveau wieder normalisiert. Doch die Aussicht auf bessere Zeiten ist nicht der einzige Treiber der deutschen Wirtschaft. „Das Ganze passiert nicht in der Isolation“, erklärt Hayo.
Eine große Rolle spiele auch die derzeitige Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). „Sie stützt durch massive Käufe von Wertpapieren auf den Märkten, der sogenannten quantitativen Lockerung, die Liquidität und die Finanzsysteme“, erläutert Hayo. Das trage dazu bei, dass die Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen sehr gut sind und es praktisch keine Engpässe gibt. „Liquidität gibt es fast in unbegrenztem Maße“, sagt der Experte.
Auch der Leitzins, der den Zinssatz angibt, zu dem sich Geschäftsbanken bei der EZB Geld leihen können und der schon seit Längerem auf 0 liegt, spiele eine Rolle. Hayo weist darauf hin, dass „die EZB gerade noch einmal bekräftigt hat, dass es mittelfristig kaum zu Zinserhöhungen kommen wird“.
Ein deutsches Wirtschaftswunder auf Pump also? „Man kann es so sehen, aber der Unterschied ist: In diesem Fall führt die Europäische Zentralbank geldpolitische Maßnahmen durch, es verschuldet sich nicht der Staat“, analysiert der Volkswirt. Das Ziel, welches die EZB mit dem Instrument des „Quantitative Easing“ verfolge, sei es, das Bankensystem mit zusätzlicher Liquidität zu versorgen, den langfristigen Kapitalmarktzins zu beeinflussen und die Wirtschaft anzukurbeln.
„Allerdings kauft die EZB in großem Maße auch staatliche Schuldverschreibungen und finanziert damit indirekt die konjunkturstützenden Corona-Maßnahmen der europäischen Regierungen“, sagt der Experte. Das Anlegen von Kapital in Form von Schuldverschreibungen, also in festverzinste Wertpapiere, sei für Investoren praktisch uninteressant geworden, weil die Zinsen so niedrig sind.
Es komme deshalb zum sogenannten Portfolio-Effekt: „Investoren weichen auf Aktienmärkte und Immobilienmärkte aus“, erklärt der Experte. Der hohe Zulauf der Aktienmärkte liege also auch in der Alternativlosigkeit der Anlageoptionen begründet. „Die Investoren wissen sonst nicht, wo sie anlegen sollen“, betont Hayo. Auch auf dem Wohnungsmarkt habe man deshalb in letzter Zeit erhebliche Anstiege gesehen.
„Der private Wohnungsmarkt in attraktiven Lagen wird vermutlich weiter boomen. Wie es mit dem geschäftlichen Immobilienmarkt weitergeht, ist jedoch unklar – etwa wegen des Trends zum Home-Office und des Geschäftssterbens durch den Internethandel“, meint Hayo. All jene Entwicklungen hätten Rückwirkungen auf den Aktienmarkt.
Wieso aber klagen die Großkonzerne dann trotzdem über Lockdowns, CO2-Steuer und Umweltauflagen? „Es gibt Einzelunternehmen, die trotz der Pandemie gut gefahren sind – weil sie spezielle Nischen oder Märkte bedient haben, die von der Pandemie weniger stark betroffen waren. Das betrifft aber natürlich nicht alle“, erinnert Hayo.
Von den börsennotierten Unternehmen haben beispielsweise die Aktien von Continental, Allianz und Henkel seit Jahresbeginn massiv eingebüßt. „Man muss Aktienkurse – also den Unternehmenswert – und den von Unternehmen erzielten Gewinn unterscheiden“, verdeutlich Hayo. Während die Aktienkurse die Erwartungen der Märkte, wie es in Zukunft weitergeht, widerspiegeln, beziehen sich die Gewinne auf das, was in dem gegenwärtigen Umfeld erzielt werden kann.
„Aktuell kommt es an vielen Stellen zu sogenannten Basis-Effekten. Durch den Einbruch, den wir in der ersten Phase der Pandemie erlebt haben, sieht man jetzt starke Steigerungen der Gewinne, weil die Wirtschaft zur Normalität zurückkehrt“, sagt der Experte.
Stellt sich jedoch heraus, dass die Märkte optimistischer waren als sich nun realwirtschaftlich abzeichnet, hätte das auch deutlich negative Auswirkungen auf den Aktienmarkt . „Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn uns eine neue Virusvariante in einen erneuten Lockdown zwänge“, sagt Hayo.
Er sieht auch die Klimapolitik als wichtigen Einfluss auf die Aktienmärkte. „Sie birgt für Unternehmen ein Risiko. Weltweit werden Anstrengungen zum Klimaschutz gemacht. Hier ist es besonders für deutsche Unternehmen relevant, ob Deutschland sich sehr viel stärker als andere Länder engagiert, oder im Fluss mitschwimmt“, analysiert der Wirtschaftsexperte. Das wiederum hänge unter anderem davon ab, wie die Wahlen ausgehen werden.
Noch eine weitere Entwicklung kommt hinzu: International wird aktuell der Versuch weltweiter Mindeststeuern auf die Gewinne multinationaler Konzerne unternommen. „Wenn das durchkäme, würde das für Deutschland sicherlich einige Vorteile mit sich bringen. Denn der Anreiz, sich außerhalb Deutschlands anzusiedeln, um Steuern zu sparen, verringert sich“, meint Hayo. Doch der Blick in die Zukunft der Aktienmärkte – er bleibt auch in Zeiten der Pandemie Spekulation.
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