Der Mittelstand und viele Unternehmer wünschen sich eine Koalition aus Union, FDP und Grünen. Kursgewinne zum Handelsbeginn.
Die Erleichterung ist an der Börse spürbar. Mit Kursgewinnen feiert der Deutsche Aktienindex (Dax) den Ausgang der Bundestagswahl. Um rund ein Prozent gingen die Kurse gleich zum Handelsbeginn in die Höhe. Der Grund: „Ein Linksbündnis scheidet aus“, sagte Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP Bank. Damit sei das größte Risiko aus Finanzmarktsicht ausgeräumt. „Ohne die Linkspartei dürfte es keine Mehrheit für Steuererhöhungen oder neue Regulierungen wie eine Mietpreisbremse geben“, meint auch Michael Holstein, Chef-Volkswirt der DZ Bank. Bleibt abzuwarten, ob das stimmt. Und nach der ersten Euphorie gaben die Kurse dann auch wieder nach, denn noch ist unklar, wie es weitergeht.
Bis politische Klarheit herrscht und eine Koalition steht, kann nämlich noch einige Zeit vergehen. Vor einer monatelangen Hängepartie wie nach der letzten Bundestagswahl hat die Wirtschaft jedoch sichtlich Angst. „Angesichts des unklaren Wahlausgangs erwartet die deutsche Industrie jetzt von allen Parteien maximale Verantwortung und Anpacken der Prioritäten statt taktischer Manöver“, mahnte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm am Montag. Die Bereitschaft zu wegweisenden Entscheidungen zugunsten des Standorts müsse das Leitprinzip für jede Koalitionsverhandlung sein, um Stillstand zu überwinden.
Auch Bankenpräsident Christian Sewing verlangt ein „Regierungsbündnis des Aufbruchs“. Die neue Koalition müsse mutig Strukturveränderungen angehen, um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu stärken. Herausforderungen rund um Digitalisierung und Klimawandel könnten nur mit starken Banken und leistungsfähigen Kapitalmärkten finanziert werden. „Die neue Bundesregierung sollte mehr Europa wagen – nur so werden wir unsere Souveränität im internationalen Kräftemessen erhalten.“
Reformfreude wünschen sich auch die Arbeitgeber. Deutschland müsse schneller werden, um die Herausforderungen bewältigen zu können, sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. „Wir dürfen uns nicht mit Abstieg anfreunden.“ Klimaschutz und unternehmerische Freiheit dürften keine Gegensätze sein. „Wir brauchen einen breiten Nachhaltigkeitsbegriff, der ökologische und ökonomische Verantwortung zusammendenkt.“ Erfreut ist Dulger über die Stimmenverluste der Linkspartei und der AfD. „Die Ränder wurden zu Recht geschwächt.“
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Nach dem knappen Wahlsieg der SPD vor der Union wollen beide Seiten Koalitionen schmieden. Grüne und FDP werden umworben. Der Mittelstand setzt auf eine Unions-geführte Jamaika-Koalition, wie eine Umfrage des Mittelstandsverbands BVMW kurz vor der Wahl zeigte. Gut 34 Prozent der befragten Firmen sprachen sich für ein Bündnis von CDU/CSU, Grünen und FDP aus. Eine Blitzumfrage des Deutschen Mittelstands-Bunds (DMB) nach der Wahl bestätigt dies: Demnach plädieren 38 Prozent der Firmen für eine Jamaika-Koalition und 34 für ein Bündnis aus Union, SPD und FDP, während nur elf Prozent eine Ampel aus SPD, Grünen und FDP favorisieren.
Auch die Familienunternehmer sehen vor allem Grüne und FDP im Fokus der Verhandlungen. „Die Mischung macht’s: Aus Gelb und Grün könnte eine Klimaschutzpolitik entstehen, die tatsächlich CO2-Emissionen marktwirtschaftlich einspart und nicht nur erneuerbaren Energien planwirtschaftlich verteuert“, sagte Verbands-Präsident Reinhold von Eben-Worlee. Themen wie Klimaschutz und Digitalisierung könnten nur aber angepackt werden, wenn die Betriebe wieder international wettbewerbsfähiger würden und fordert, auf Steuererhöhungen wie eine Vermögens- oder verschärfte Erbschaftsteuer zu verzichten.
Die deutschen Landwirte erhoffen sich von einer neuen Bundesregierung „mehr Wertschätzung“ sowie eine Zukunftsperspektive für ihre Betriebe. Es gehe vor allem darum, die Zukunft der Landwirtschaft und des ländlichen Raums zu sichern und einen „Strukturbruch zu verhindern“, forderte am Montag Bauernpräsident Joachim Rukwied. Experten hätten dazu Lösungsvorschläge gemacht – diese müssten nun von den Parteien aufgegriffen werden. Auch Rukwied mahnte eine zügige Regierungsbildung an. Die Bäuerinnen und Bauern in Deutschland bräuchten „politische Klarheit und Perspektiven“.
Der Bund für Umelt und Naturschutz mahnte, die neue Koalition müsse den Klimaschutz gemeinsamen zum zentralen Projekt machen. Die künftige Regierung muss schnell und entschlossen handeln, um etwa einen Boom beim naturverträglichen Ausbau der erneuerbaren Energien zu ermöglichen. Auch Klimaschutz im Verkehr und bei der Gebäudesanierung muss endlich vorangebracht werden. „Bei den Verhandlungen darf nicht der Versuch gemacht werden, Klimaschutz gegen Sozialpolitik auszuspielen“, mahnte BUND-Chef Olaf Bandt.
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Klimaschutz müsse sozial gerecht organisiert werden. „Ob Olaf Scholz oder Armin Laschet das können, müssen sie in Koalitionsverhandlungen erst noch beweisen. In jedem Fall muss die Klimaschutzbewegung weiter Druck ausüben, etwa um einen schnellen Kohleausstieg durchzusetzen und Deutschland schnell auf den Weg zur Klimaneutralität zu bringen.“ (mit dpa)