Komplizierte Vorschriften, teure Gesetze, widersprüchliche Verwaltungsanforderungen – Bürger und Wirtschaft in Deutschland stöhnen seit jeher über eine gewisse Wirklichkeitsferne des deutschen Staates. Neu ist, dass er sich nun mit seiner eigenen Bürokratie selbst stärker im Wege steht als seinen Verwaltungsobjekten.
Sprunghafte Erhöhungen der Folgekosten zur Erfüllung von Gesetzen haben nach dem nun vorgelegten Bericht des Nationalen Normenkontrollrats – einem unabhängigen Expertengremium zur Beratung der Bundesregierung in Sachen Bürokratieabbau – dazu geführt, „dass die Verwaltung die Wirtschaft erstmals als Hauptbetroffene abgelöst hat“.
Größter Posten: Das Ganztagsförderungsgesetz trieb die jährlich wiederkehrenden Dauerkosten der Kommunen, darunter vor allem die Personalkosten, binnen Jahresfrist um fast 3,8 Milliarden Euro nach oben – ein in den letzten zehn Jahren noch nie dagewesener Sprung.
Eine Fortsetzung des Trends ist programmiert. Nach dem Gesetz ist die stufenweise Einführung eines Anspruchs auf Ganztagsförderung für Grundschulkinder geplant, die ab dem Schuljahr 2025/2026 die erste Klassenstufe besuchen. Andere Paragrafenwerke wie das „Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über die Förderung sauberer und energieeffizienter Straßenfahrzeuge“, das „IT-Sicherheitsgesetz“ und das Jahressteuergesetz trieben die Kosten um weitere Hunderte von Millionen Euro hoch.
Der Rat listet in seinem Bericht mit dem programmatischen Titel „Zukunftsfester Staat“ eine Reihe von kritischen Punkten auf, deren Lösung oft an zähen Strukturen scheitere. „Alle sind guten Willens“, sagte Kontrollrats-Chef Johannes Ludewig. „Aber Deutschland denkt und handelt zu kompliziert. Und am Ende sind wir zu langsam.“ Die Welt warte nicht auf Deutschland.
So versucht der Staat mit mäßigem Erfolg, die oft hoffnungslos veraltete Verwaltungspraxis mit dem Onlinezugangsgesetz zu modernisieren und den digitalen Zugang der Bürger zu Ämtern und Behörden zu verbessern. Bund und Länder müssen danach bis Ende des kommenden Jahres 2022 rund 600 Verwaltungsleistungen digitalisieren.
Die Umsetzung werde zwar vielerorts engagiert vorangetrieben, meint der Rat. „Trotzdem ist der Erfolg ungewiss“, lautet das nüchterne Fazit. Ohne eine „strategische Neuausrichtung“ sei das ganze Projekt gefährdet. Notwendig seien mehr Standardanwendungen, die stärkere Nutzung von Plattformen und einfachere Verbreitung guter Lösungen – kurz: ein „App-Store für die Verwaltung“.
Doch die komplexen Regularien und Strukturen zu überwinden sei schwierig. Auch das geltende Recht sei nicht digitaltauglich: „Hindernisse sind komplizierte Gesetze und mehrdeutige Begrifflichkeiten.“ Für neue Gesetze müsse deshalb ein „Digital-Check“ eingeführt werden.
Dass der Versuch einer Zähmung der überbordenden Bürokratie dem Kampf gegen die legendäre vielköpfige Hydra gleicht, zeigt die Entwicklung der „One-in, One-out“-Regel. Ihr liegt der eigentlich sinnvolle Gedanke zugrunde, dass jeder kostentreibenden Neuregelung für die Wirtschaft der Wegfall einer vorhandenen anderen Regel gegenüberstehen müsse.
Auf dem Papier klappt das gut. Nur dort. Im Zeitraum Juli 2020 bis Juli 2021, mit dem sich der Bericht befasst, sei die Wirtschaft netto um gut 500 Millionen Euro entlastet worden, schreibt der Rat. Um dann allerdings im gleichen Atemzug eine „Realitätslücke“ zu beklagen, aus der die schöne Ziffer resultiere: die zunehmende Verlagerung von Regulierungen aus dem nationalen Recht ins EU-Recht. Dieses werde in der Berechnung aber nicht erfasst.
Beziehe man diesen Effekt ein, so ergebe sich keine Entlastung, sondern eine Belastung der Wirtschaft von 37 Millionen Euro. „Diese Realitätslücke muss geschlossen werden“, fordert der Normenkontrollrat folgerichtig.
Das Thema Bürokratieabbau ist ein politischer Dauerbrenner, gerade vor wichtigen Wahlen. Auch diesmal hat etwa Armin Laschet, der Kanzlerkandidat der Union, erklärt, die Streichung „überflüssiger Bürokratie“ sei Teil seines „Entfesselungspakets“.
Er forderte zudem, wie die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft und andere Wirtschaftsverbände, eine „One-in, Two-out“-Regel: Für jede neue Vorschrift müssten zwei alte fallen, um die Belastungen zu senken. Weder Grüne noch SPD sind gegen Bürokratieabbau, die FDP hat sich – vergeblich – gar für ein „viertes Bürokratie-Entlastungsgesetz“ eingesetzt. Stattdessen gab es ein „Maßnahmenpaket“ der Bundesregierung.
Doch Anstrengungen, die Regelungswut des Staates einzuhegen, gibt es wohl, seitdem Meyers Konversationslexikon von 1895 Bürokratie als „Bezeichnung für eine kurzsichtige und engherzige Beamtenwirtschaft, welcher das Verständnis für die praktischen Bedürfnisse des Volkes gebricht“ definierte.
Auch mit dem jüngsten Anlauf sind Kritiker nicht zufrieden. „Die 22 Einzelpunkte des Pakets sind eher Pünktchen, Forderungen aus der Wirtschaft werden weiterhin ignoriert“, monierte etwa Klaus-Heiner Röhl vom unternehmernahen Kölner Institut der deutschen Wirtschaft.
Statt einer besseren Steuer-Software zur Kommunikation mit dem Fiskus benötigten die Unternehmen zum Beispiel ein Planungs- und Genehmigungsrecht, das nicht als Investitionsbremse wirke. Dazu zähle auch die lange Dauer von Genehmigungsverfahren.
Anders als Tesla mit seinem Werk in Brandenburg könne kein deutscher Mittelständler das Risiko eingehen, Produktionsanlagen noch vor der Erteilung der Genehmigung zu bauen, um sie am Ende womöglich wieder abreißen zu müssen.
„Die Wahrscheinlichkeit, dass ein neuer Bundeskanzler Laschet oder Scholz das Schwert zieht und den gordischen Knoten beim Planungs- und Genehmigungsrecht durchhaut, ist leider sehr gering“, ahnt Röhl. Zu vieles greife ineinander, von der Bürgerbeteiligung über EU-Recht bis zum Verbandsklagerecht.
Auch der Normenkontrollrat ist nicht optimistisch. „Komplexe Planungs-, Genehmigungs- und Gerichtsverfahren benötigen vielfach bis zu zehn Jahre und mehr“, beklagt der Bericht. Dies sei sogar zu langsam, um rechtzeitig klimafreundliche Infrastrukturen und Techniken auf den Weg zu bringen.
Zwar seien in den letzten Jahren Fortschritte erzielt worden, doch das Tempo reiche nicht. Die Corona-Krise habe erneut augenfällig gemacht, dass der Staat nach wie vor zu kleinteilig und zögerlich arbeite, etwa mit der Fax-Übermittlung von Infektionszahlen oder der zähen Auszahlung von Hilfe für kleine Unternehmen.
Alles in allem fehle es an Entschlossenheit, die Ziele umzusetzen, meinen die Regierungsberater.
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