Höhere Löhne, höhere Produktivität, höheres Wachstum und zugleich niedrigere Steuern. So lautet der neue Wirtschaftsplan des britischen Premiers Johnson. Experten und Unternehmer haben Zweifel, dass das gelingen kann.
Noch immer klaffen Lücken in britischen Supermarktregalen. Laut dem Statistikamt ONS gaben 43 Prozent der Befragten an, das Warenangebot sei in den vergangenen zwei Wochen geringer gewesen als sonst. Während sich die britische Regierung erst zierte anzuerkennen, dass es überhaupt eine Versorgungskrise gibt, werden die Probleme von Premierminister Boris Johnson nun als gutes Zeichen gewertet.
„Es mag manchmal schwierig sein, aber das ist der Wechsel, für den die Menschen 2016 gestimmt haben“, so Johnson. Nämlich: beim Brexit-Referendum. Laut Johnson sind fehlende Arbeitskräfte in vielen Sektoren von Landwirtschaft über Pflege bis zu Gastronomie und Logistikbranche und damit verbundene Engpässe quasi die Geburtswehen für die neue Wirtschaft, die das Land braucht.
Wie stehen die Chancen für den von Boris Johnson angekündigten Wandel der britischen Wirtschaft?
Hohe Löhne, hohe Ausbildungsstandards, hohe Produktivität – so soll die neue Wirtschaft aussehen. Und das alles , sagt Johnson, mit heimischen Arbeitskräften und sehr gezielter Einwanderung. „Wir dürfen nicht wieder in den alten Mechanismus verfallen, unkontrollierte Einwanderung zu erlauben, die die Löhne niedrig hält. Wir brauchen kontrollierte Einwanderung von sehr gut Ausgebildeten. Und wir dürfen uns mit günstigen Arbeitskräften nicht weiter vor dringend notwendigen Investitionen drücken.“
Johnson zeichnet ein Bild, dass der britische Arbeitsmarkt geradezu süchtig gewesen sei nach Billiglohnkräften und die Wirtschaft Investitionen habe vermeiden wollen. Die Zahlen zeigen allerdings, dass nach der Finanzkrise bis 2016 die Investitionen stetig stiegen. Erst die Unsicherheit nach dem Brexit-Entscheid führte zur Stagnation, bevor Investitionen zu Beginn der Coronakrise in den Keller gingen.
„Seit dem Brexit-Referendum hatten wir in den vergangenen fünf Jahren wegen der Unsicherheit, wie der Brexit ausgeht, das niedrigste Investitionsvolumen in ganz Europa – mal abgesehen von Griechenland“, sagt Wirtschaftswissenschaftler Howard Davies, ehemaliger Direktor der London School of Economics. „Aber die Unternehmen brauchen jetzt ganz bestimmt keine Nachhilfe in Sachen Investitionen und Produktivität – das ist ihr Thema.“
Gas ist knapp im Vereinigten Königreich.
Großbritannien hat ein Produktivitätsproblem. Seit 2008 stagnierte die Produktivität und darum auch die Löhne. Aber lag das wirklich an den günstigen Arbeitskräften aus dem Ausland? Im Vergleich der G7-Länder liegt Großbritannien bei der Produktivität im Mittelfeld. Frankreich und Deutschland, beide in der EU, beide mit Arbeitnehmerfreizügigkeit haben eine höhere Produktivität als Großbritannien. Japan dagegen ist bei den G7 Schlusslicht mit der geringsten Produktivität – hat aber so gut wie gar keine günstigen ausländischen Arbeitskräfte.
Jetzt die Löhne zu erhöhen, ohne gleichzeitig die Produktivität zu steigern, das sei gefährlich warnt Ökonom Davies: „Das führt zu höherer Inflation, die wir gerade schon beobachten und das wollen wir ganz sicher nicht.“ Denn weniger Arbeitskräfte, besser ausgebildet und bezahlt kosten mehr, wenn sie Produktivität nicht mitsteigt. Und das trifft dann irgendwann die Portemonnaies der Kunden.
So sieht es auch Richard Walker, Chef der Supermarktkette Iceland. „Ich teile ja die langfristige Vision des Premierministers. Aber höhere Löhne zu zahlen, ohne die Produktivitätserhöhung sicherzustellen, wird zusammen mit den ohnehin steigenden Energiepreisen, die auch wir als Unternehmen heftig spüren, zu teureren Lebensmitteln führen.“
Boris Johnson ist trotz aller Misstände beliebt bei Wählern und seiner Partei – und imponiert vielen.
Walker hat 2016 für den Brexit gestimmt. Er wollte Einwanderung kontrollieren und wünschte sich bessere Handelsabkommen weltweit. Aber er hätte nie gedacht, dass ein Brexit dabei herauskommt, der so die Wirtschaft ins Schleudern bringt.
„Ich habe keinen Moment daran geglaubt, dass wir ohne kontrollierte Einwanderung aus der ganzen Welt zurechtkommen, um die strukturellen Lücken in bestimmten Sektoren des Arbeitsmarkts zu füllen, die wir nun mal haben, etwa in der Landwirtschaft oder im Transportgewerbe“, so Walker. Ihnen jetzt uns den schwarzen Peter zuzuschieben, dass sie Schuld seien, dass so viele Lkw-Fahrer fehlten, helfe nicht wirklich weiter.
Für Lkw-Fahrer will die britische Regierung nun 5000 temporäre EU-Visa bis März bereitstellen. Verkehrsminister Grant Shapps erklärte, in der vergangenen Woche hätten sich bereits 3500 Menschen beworben. Insgesamt fehlen in Großbritannien etwa 100.000.
Obwohl die Armee nun Tankstellen beliefert, wird die Kraftstoff-Krise in Großbritannien wohl anhalten.
Auch der Unternehmer Simon Wolfson wollte den Brexit. Er sitzt als Lord für die Konservativen im Oberhaus und ist Chef der Bekleidungsladenkette NEXT. Auch er ist davon überzeugt, man müsse in Sektoren wie der Gastronomie, Hotellerie oder Pflege weiterhin ausländische Arbeitskräfte beschäftigen. In diesen Branchen herrschten Panik und Verzweiflung.
Daher schlägt Wolfson vor, dass es teurer werden müsse, Ausländer mit Visa zu holen. „Diese Visa müssen an zwei Bedingungen gekoppelt sein: es müssen Löhne gezahlt werden, die gleich hoch sind wie die für britische Arbeitnehmer. Und es müsste eine Extra-Visumssteuer entrichtet werden, z.B. sieben Prozent, so dass immer ein großer Anreiz besteht, Einheimische zu beschäftigen, wenn sie verfügbar sind“, sagt Wolfson.
Die Konservativen waren traditionell immer die Partei der Wirtschaft. Doch die fühlt sich von ihrem Premierminister gerade ziemlich im Stich gelassen. „Natürlich hoffe ich, dass die Konservativen das immer noch sind. Aber die Lage ist gerade sehr frustrierend“, sagt beschreibt Iceland-Chef Walker. Sein Eindruck sei, keiner mache sich die Mühe sich mal genau anzuschauen, welche Belastungen und Herausforderungen Unternehmen gerade zu stemmen hätten.
Über dieses Thema berichtete Inforadio am 09. Oktober 2021 um 07:02 Uhr.